jetzt spendenspendenMenü öffnen

“Frauen in Afghanistan sind heute anfälliger für Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung”

zurück

Hiram Kabarita ist Fachberater für Schutz und psychosoziale Unterstützung bei der Diakonie Katastrophenhilfe. Vor allem in Afghanistan, das seit Jahren eine multiple humanitäre Krise durchlebt, werden die Rechte von Frauen abgebaut und Frauen von humanitärer Hilfe ausgeschlossen. Im Interview beschreibt er, warum Hilfe von Frauen für Frauen wichtig ist.

Mädchen und Frauen in Afghanistan erleben seit Jahren Einschränkungen, die auch die humanitäre Hilfe betreffen. Können Sie das beschreiben?

Zum einen ist die turbulente jüngere Geschichte Afghanistans von Konflikten und Instabilität geprägt. Zum anderen ist Geschlechterungerechtigkeit schon lange tief in den gesellschaftlichen Normen verwurzelt. Eine Verschärfung dieser Ungerechtigkeit spiegelt sich in der heutigen Politik des Landes wider. Sie haben kaum noch Zugang zu Bildung, Chancen und wirtschaftlichen Ressourcen. Sie werden nur noch auf eine reproduktive Rolle im Haushalt reduziert. Das hindert Frauen und Mädchen auch daran, dringend benötigte Hilfe und Schutz zu erhalten. Und es wirkt sich auch die Arbeit für Hilfsorganisationen aus, für die ein Beschäftigungsverbot für Frauen ausgesprochen wurde. Dadurch wird Mädchen und Frauen lebensrettende Hilfe vorenthalten, die oft nur von Frauen adäquat umgesetzt werden kann. Das hat zur Folge, dass Mädchen und Frauen anfälliger für Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung sind.
 

Welche Rolle erfüllen Frauen in der humanitären Hilfe, die Männer nicht erfüllen können?

Weibliches Personal bei Hilfsorganisationen spielt eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung dieser genannten Herausforderungen. In einer Gesellschaft, in der es männlichen Fremden untersagt ist, mit afghanischen Frauen ohne männlichen Vormund in Kontakt zu treten, sind weibliche Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen wichtige Vermittlerinnen. Sie können direkt kommunizieren, kulturelle Empfindlichkeiten überwinden und marginalisierte Gemeinschaften erreichen. Ihre Anwesenheit stellt sicher, dass die Stimmen der Frauen Gehör finden, ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden und ihre Perspektiven in die Planung und Durchführung der Hilfe einfließen. Geschieht dies nicht, sind Frauen von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, wenn es um die bedarfsgerechte Verteilung von Hilfsgütern und ihre spezifischen Bedürfnisse geht.
 

Gibt es konkrete Beispiele?

Bei der Verteilung von Nahrungsmitteln werden dann beispielsweise eher von Männern geführte Haushalte bevorzugt, ohne dass die Ernährungsbedürfnisse von gefährdeten Mädchen, stillenden Müttern oder schwangeren Frauen wirklich berücksichtigt werden. Dies richtet Schaden an, da es letztlich die bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern vertieft. Frauen, die in Hilfsorganisationen arbeiten, erleichtern nicht nur die Bereitstellung von Hilfsgütern, sondern setzen sich auch für die Bedürfnisse und Prioritäten von Frauen in konfliktbetroffenen Gebieten ein. Dieser partizipatorische Ansatz macht Hilfsmaßnahmen wirksamer und relevanter und wahrt die Würde, die Sicherheit und der Rechte der afghanischen Frauen. In einem Kontext, in dem die Mobilität von Frauen stark eingeschränkt ist, sind weibliche Helferinnen für hilfesuchende Frauen ein Aspekt der Sicherheit. Das verringert das Risiko, ausgebeutet oder missbraucht zu werden. Ihre Anwesenheit trägt letztlich dazu bei, dass die humanitäre Hilfe zu dem wird, was sie im Kern ausmachen soll: Sie wird unparteiisch, effektiver und bedarfsgerechter.
 

Momentan müssen viele Afghaninnen zurückkehren, die in Pakistan Schutz gesucht hatten. Wie ist deren Lage?

Ihre Ausgangsbedingungen sind deutlich schlechter, was auch globale Zahlen belegen. Weltweit sind mehr als 75 Prozent der Flüchtlinge und Vertriebenen, die von Krieg, Hungersnot, Verfolgung und Naturkatastrophen bedroht sind, Frauen und Kinder. Das verdeutlicht, wie unverhältnismäßig stark sich Notsituationen auf Frauen und Mädchen auswirken. Etwa 70 Prozent der Frauen erleben in humanitären Kontexten geschlechtsspezifische Gewalt (GBV). Bei heranwachsenden Mädchen in Konfliktgebieten ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Schule nicht besuchen, um 90 Prozent höher als bei Mädchen in einem stabilen Umfeld. Wenn Schutz und Rechte in Momenten der Flucht und in Konflikten ohnehin geschwächt sind, dürfen Gesetze und Normen diese nicht weiter verstärken. Doch damit sind Frauen und Mädchen in Afghanistan konfrontiert.
 

Gibt es denn Aussichten, dass sich die Situation verbessert?

Um Frauen in Afghanistan überhaupt noch erreichen zu können, werden derzeit notwendige Kompromisse gemacht, denn wir und unsere lokalen Partner wollen unsere Hilfe nicht einstellen. Weibliches Personal, dass in Hilfsprojekten Frauen unterstützt, wird von Männern begleitet. Das erfüllt teilweise die Auflagen. Aber um Frauen geschützte Räume bieten zu können – etwa nach erlebter Gewalt – kann das nur eine zeitweise Übergangslösung sein. Deshalb muss weiter darauf hingearbeitet werden, dass humanitäre Helferinnen frei arbeiten und geschlechtsspezifische Hilfe leisten können. Sie sind essenziell wichtig, um die Würde, die Sicherheit und die Rechte von Frauen in Afghanistan aufrechtzuerhalten.

zurück