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Logbuch Ukraine: Einblicke in die Arbeit Teil VIII

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Die Stadt Chasiv Yar liegt direkt neben Bachmut, wo aktuell schwer gekämpft wird. Imke Hansen, Mitarbeitende unserer ukrainischen Partnerorganisation Vostok SOS, schildert uns ihre Eindrücke von vor Ort. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen ist Imke auf Monitoring Mission im Osten der Ukraine und besucht Orte, um mit den Menschen zu sprechen, die Lage zu erfassen, humanitäre Nöte zu erkennen und Evakuationsbedarf zu registrieren. Wir veröffentlichen Auszüge aus ihrem Logbuch.

Unterwegs in Chasiv Yar

In Chasiv Yar gibt es momentan Elektrizität, Wasser und Heizung – mehr als in den letzten Wochen in Kyiv. Ab heute soll es auch wieder Gas geben. Wir fragen den Bürgermeister, wie er die Lage sieht. „Stabil beschissen“ lacht er. Chasiv Yar liegt direkt neben Bachmut, wo aktuell schwer gekämpft wird. Die Stadt hat einen schweren Sommer hinter sich – ohne Wasser und Gas, und mit der ständigen Audiokulisse des Krieges. Die Stadt und ihre Angestellten haben in den letzten Wochen einiges geleistet. Die Infrastruktur ist aktuell weitgehend wieder hergestellt, aber jetzt scheinen die Kämpfe näher zu rücken. Ruslan, der in der Stadtverwaltung für die humanitäre Hilfe zuständig ist, zeigt uns ein zerfleddertes Dach im Zentrum, das Ergebnis der letzten Nacht.

Chasiv Yar hat das Glück, einige sehr aktive Leute zu haben, städtische Angestellte und zivilgesellschaftliche Aktivist*innen, die sich darum kümmern, die Situation zu verbessern. Vostok SOS evakuiert regelmäßig Menschen eingeschränkter Mobilität aus der Stadt. Es fehlt nicht and humanitärer Hilfe, aber an Transportmöglichkeiten zur Verteilung. Die Straßen hier sind sehr fragmentiert, die nächste heile Tankstelle ist 20 km weit entfernt, Reparaturmöglichkeiten noch weiter. Und die Menschen hier sind müde von der ständigen Anspannung. Auch wenn es in den letzten Wochen nicht so viele Einschläge gab ist doch klar, dass die Stadt jeden Moment getroffen werden kann. Während wir in Chasiv Yar sind, reißt der Artillerielärm nicht ab, wie ein permanentes schweres Gewitter über dem benachbarten Bachmut. Manche Einschläge sind deutlich näher als andere. Kampfflugzeuge fliegen über uns hinweg. Die ständige Gefahr ist anstrengend. Wir sind einigen Stunden in Chasiv Yar müde und fertig. Die Menschen, die hier wohnen, sind dem seit Monaten ausgesetzt.

Wenn Bachmut nicht mehr gehalten werden kann, wird die Frontlinie nach Chasiv Yar wandern. Es ist absehbar, dass das in den nächsten Wochen passieren kann. Wir fragen Ruslan, wie sich die Stadt darauf vorbereitet. „Daran will ich nicht einmal denken“, antwortet er.

Zu Besuch bei Landwirt Alexander

In den vergangenen Jahren hat Alexander einen beindruckenden landwirtschaftlichen Betrieb aufgebaut. Er besitzt 600 ha Land und sechs Angestellte und baut Weizen, Gerste und Sonnenblumen in der Region Donezk an. Da er zu klein ist, um selbst zu exportieren, verkauft er an Händler und investiert das Geld in das Leasing effizienter Maschinen. Sein Betrieb ging gut, sein Businessplan war solide und jetzt steht er kurz vor dem Bankrott, mit 250.00 € Schulden.

Seine Felder liegen in der Region Donezk, in der Nähe der Frontlinie, dort zu arbeiten bedeutet Lebensgefahr. Sein Betrieb arbeitet noch, kann aber nicht einmal die Ausgaben decken. Die russische Großinvasion unterbrach das Exportgeschäft, was die lokalen Getreidepreise auf weniger als 50 % sinken ließ. Gleichzeitig verdoppelten sich die Transportkosten, da Benzin teuer und der Transport von Gütern in seiner Region gefährlich ist und da die Straßen von dem schweren Militärgerät immer schlechter werden. Außerdem kaufen die Händler nur noch gegen Bargeld. Für eine ordentliche Buchhaltung braucht er aber Zahlungen per Banküberweisung.

Es geht nicht nur mir so, sagt er. Alle Landwirte haben zu kämpfen. Der Staat hätte uns in den letzten Monaten Getreide abkaufen oder uns irgendwie unterstützen können. Aber er hat uns im Stich gelassen. In den humanitären Hilfspaketen befindet sich eine Flasche Sonnenblumenöl, in jedem Paket. So kaufen die Leute kein heimisches Öl mehr. Das hilft den Bauern auch nicht weiter. Die Bank rief mich an und fragte, ob ich meinen Betrieb nicht in die Westukraine zu verlagern wolle. Aber wie soll ich meine 600 ha Land verlagern?

Seit Ende Februar unterstützt Alexander andere Menschen in und um Chasiv Yar. Er verteilt humanitäre Hilfe, hilft bei der Reparatur beschossener Häuser und ist da wenn man ihn braucht. Dafür setzte er sein eigenes Geld und seine eigenen Ressourcen ein. Einmal, als er Bedürftige mit Lebensmitteln versorgte, wurde sein geparktes Auto beschossen und völlig zerstört. Ende November schlug eine Rakete in eines seiner Lagerhäuser ein. 240 Tonnen Sonnenblumenkerne vermischten sich mit Trümmern und waren somit unverkäuflich.

Bis Ende Februar war Alexander ein erfolgreicher Unternehmer. Jetzt ist er vor allem fertig. Er hat sich bemüht, sich um andere gekümmert und selbst keine Hilfe bekommen. Neun Monate Krieg waren genug, um sein Geschäft und sein Leben zu ruinieren. 

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